Ein Klang im Aussterben
Immersive Reise durch Kunst und Wissenschaft
Immersive Reise durch Kunst und Wissenschaft
Gletscher sind komplexe dynamische Systeme, die von einem konstanten Gleichgewicht zwischen Schnee- und Eisakkumulation und Ablation gekennzeichnet sind. Die Ablation ist ein Prozess, bei dem Eis- und Schneemasse hauptsächlich durch Schmelzen verloren geht.
Diese ununterbrochene Wechselwirkung zwischen Fest- und Flüssigzustand bewirkt eine umfangreiche Vielfalt an akustischen Phänomenen, die oft als Kryophonie bezeichnet wird.
Darunter fallen die Tonsignale auf, die von der Deformation und Bewegung des Eises herführen, sowie vom Abbruch von Eismassen und von den Schmelz- und Regelationszyklen. Die Analyse dieser Schallemissionen bietet einen innovativen, nicht invasiven Ansatz zur Überwachung der Gletscherdynamik und zum Verständnis ihrer Reaktionen auf den Klimawandel.
‚Ein Klang im Aussterben’ nutzt die Klanganalyse, um die Evolution der Alpengletscher zu erkunden und anhand neuer künstlerischer, wissenschaftlicher und informativer Stile das Bewusstsein über die Auswirkungen des Klimawandels zu fördern.
Zwischen 2021 und 2023 hat das Projektteam mehr als 15.000 Stunden akustische Daten auf dem Adamello-Gletscher erfasst, unter Verwendung von fünf bioakustischen Aufnahmegeräten, die an strategischen Stellen wie Gletscherspalten und Schmelzwasserabflüsse positioniert wurden.
Was du sehen und hören wirst, zeugt vom Gesundheitszustand des Gletschers. Ein hochauflösendes Audiosystem im Ausstellungssaal verbreitet die reellen Klänge des Gletschers, während drei Vorrichtungen mit vierundzwanzig LED-Bildschirmen in Realzeit die vor Ort gesammelten Daten zeigen: Temperatur und Sonneneinstrahlung (linke Wand), Leistung und Klangfrequenzen (zentrale Wand), Chronologie der Ereignisse (rechte Wand).
Die Aufnahmen ermöglichen es, das Schmelzen, die Bewegung und die Verwandlungen anzuhören, die sich ereignen.
Im Rahmen des Projekts ‚Ein Klang im Aussterben’ führt ein Team aus Glaziologen, Forschern und erfahrenen Bergsteigern Adamello-Expeditionen.
Das Ziel ist dabei das Studium der Gletscherphänomene.
Dazu werden an wichtigen Stellen bioakustische Mikrofone, Sensoren und Datenerfassungsstationen installiert.
Die erfassten Daten werden mit einer Software verarbeitet, die vom Projektteam entwickelt wurde und die Klänge in Informationen verwandelt, die den glaziologischen Studien dienen.
Parallel dazu wird das Modell PDSLIM (Physically Based Distributed Snow Land and Ice Model) verwendet.
Dieses fortschrittliche Instrument schätzt den Schmelzvorgang an der Oberfläche und den Wasserabfluss an den überwachten Bereichen, wobei die Prozesse Punkt für Punkt an der Gletscheroberfläche berechnet werden. Für eine präzise Schätzung der täglichen Schmelzvariationen verlangt das Modell eine stündliche Eingabe spezifischer meteorologischer Daten.
Wie viel Süßwasser gibt es auf unserem Planeten und wo befindet es sich? 97% des Wassers der Erde ist Salzwasser. Die restlichen 3% Süßwasser stecken fast zu 70% in den Gletschern in fester Form, während es zu 30% im Untergrund gespeichert ist.
Nur ein winziger 0,3%-Anteil ist in Flüssen und Seen verfügbar. Die Gletscher sind also grundlegende Süßwasserspeicher. Heute decken die Gletscher etwa 15 Millionen km² Landfläche. Fast das gesamte Eis der Erde befindet sich an den großen Polkappen Antarktis (87%) und Grönland (11%). Die Gletscher der Alpen stellen, obgleich sie uns mächtig erscheinen, gerade nur 0,013% der Eisfläche unseres Planeten dar. Nach Meinung vieler Wissenschaftler werden die Alpengletscher größtenteils bis 2100 verschwinden.
In den Alpen befinden sich zirka 5.000 Gletscher mit einer Gesamtfläche von etwa 2.050 km².
Fast die Hälfte dieser Gletscherfläche befindet sich in den Westalpen der Schweiz, wo die Berge am höchsten sind.
In Italien gibt es etwa 900 Gletscher, die eine Fläche von 370 km² decken.
Mehr als 90% der Gletscher ist kleiner als 1 km².
Der Größte davon ist der Adamello-Gletscher zwischen dem Trentino und der Lombardei (15,7 km²)
Datenquelle: Il nuovo catasto dei ghiacciai italiani, Claudio Smiraglia, 2015 (Neues Kataster der italienischen Gletscher)
Die Gletscher haben schon immer die menschliche Fantasie erweckt und kommen in den Mythen und Legenden jeder Zivilisation vor.
Die eindrucksvollen Gestalten der kosmischen Kühe, wie Kamadhenu in Indien und Audhumbla der Nordischen Mythologie, verkörpern Fruchtbarkeit und Nährkraft, in Verbindung mit der von der Gletscherschmelze erbrachte Reichhaltigkeit.
Andererseits erzeugten sie während der Kleinen Eiszeit, als sich die Alpengletscher bedrohlich zu den Dörfern vorschoben, Erzählungen mit dämonischen Gestalten, die Angst und Furcht verkörperten.
Die höchsten Gipfel galten tatsächlich als das Reich von Elfen, Drachen und Riesen und förderten reiche und manchmal schauerliche Vorstellungen.
Diese Beispiele heben das empfindliche Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur hervor, das die Gletscher darstellen, ein Gleichgewicht, das heute mehr denn je ungewiss ist.
In 1723 widmete der Schweizer Naturforscher J.J. Scheuchzer zahlreiche Seiten seines Werkes „Itinera per Helvetiae Alpinas regiones“ der Beschreibung und Katalogisierung der Alpen-Drachen, die die Berge und Gletscher bevölkerten.
Er dokumentierte akribisch die Orte der Sichtungen sowie die Namen und Zeugenaussagen derer, die die Drachen sahen. Diese Kreaturen wurden detailliert beschrieben und klassifiziert, wobei bis zu 12 verschiedene Schweizer Drachen identifiziert wurden.
„Von Andreas Roduner und seinen Begleitern in 1660 m Höhe auf dem Wangserberg angetroffen. Als das Untier sie sah, erhob es sich auf seinen Hinterbeinen und erreichte die Höhe eines Mannes. Sein Körper war mit Schuppen bedeckt, es hatte vier Beine und einen 3 Ellen langen Schwanz (1 Elle = 1,143 m, Anm. d. Autors), sein Körper erschien segmentiert und sein Kopf war klein wie der einer Katze. Schließlich zog sich eine dicke Mähne über seinen Rücken.“
Johann Jacob Scheuchzer, Itinera per Helvetiae Alpinas Regiones
Anastatischer Nachdruck, Ausgabe 1723.
Gesamtes Werk in vier Bänden, gesammelt in zwei Teilen.
Dauer: 6 Minuten
Installation als Endlosschleife
Das Werk fasst die 24-Stunden-Schmelzaktivität des Gletschers zusammen.
Die natürliche Welt wendet sich mit einer mehr den je starken Stimme an uns, doch wir sind nicht mehr in der Lage, sie anzuhören.
Amitav Ghosh,
The Great Derangement, 2016